Denk doch!

Den Klassiker muß ich Ihnen gewiß nicht erklären. Sie kennen ihn entweder in seiner puren Variante oder als blumiges Derivat. In einem Ringen um Zustimmung steckt ja oft ein Bemühen um Vorherrschaft.

In ihrem Roman „Jazz“ läßt Toni Morrison eine Person sagen: „Ich will kein freier Nigger sein, sondern ein freier Mann.“ (Für leicht Erregbare: Wenn Toni Morrison in ihrer Literatur das N-Wort verwendet, dann deshalb, weil sie schwarz ist und hier das Leben von Schwarzen beschreibt.) Diese Nuancierung halte ich für fundamental.

Mir fiel diese Stelle gerade ein, weil es ein anderes Stück Literatur gibt, allerdings Unterhaltungsliteratur, aus der ich eine Stelle gerne abwandle: „Der Sklave träumt nicht davon frei zu sein, er träumt davon Herr zu sein.“ Das finde ich in meinem nächsten Umfeld.

Derlei Hierarchiespiele sind mir nicht neu, aber mit dem ersten Corona-Lockdown ging ein großes Gezänk mit speziellen Qualitäten los. Wer immer ein abgeschlossenes Youtube-Studium hat, mochte mitmischen.

Es ging freilich vorher schon, es geht mehr denn je um Rang. Nun also der Klassiker:
A: „Du verstehst mich nicht!“
B: „Ich verstehe dich schon, aber ich stimme dir nicht zu.“
A: „Nein, du verstehst mich nicht!“

Damit wäre eigentlich schon gesagt: Schließ dich meiner Meinung an oder geh zum Teufel. Daher kennt dieses Match ein beliebtes Nachspiel:
A: „Jetzt denk einmal nach!“

Das ist die moderate Art, um jemanden zu sagen: „Deine Meinung ist Scheiße, du Trottel!“ Deuten Sie das nicht als Sachverhaltsdarstellung. Es ist der Versuch einer Machtdemonstration. Es geht dabei um Definitionsmacht. Woher ich das weiß?

Ich hab einen nun seit Jahrzehnten gut trainierten und belastbaren Verstand. Das führt wesentlich zu zwei Situationen: Wenn ich mich mit einem Thema befaßt habe, ist meine Ansicht darüber begründet und daher begründbar. Wenn ich mich in einer Sache nicht auskenne, frage ich einfach. Und manchmal läuft es danach auf Dissens hinaus.

Ab da wird es interessant. Kann jemand Dissens akzeptieren? Kommt allerdings dieses „Jetzt denk einmal nach!“, werde ich wachsam. Womöglich hab ich es gerade mit einem Enkelkind der Tyrannis zu tun, mit so einem Wechselbalg, einem mühsam auf Demokratie gebürsteten und hübsch lackierten Engelchen.

Aber zugegeben, manchmal ist es eben sehr anstrengend, den selbstgewählten Ansprüchen zu genügen. Damit geht es mir ohnehin nicht anders. Was für eine interessante Krise wir doch haben…

— [Hart am Wind: Die Übersicht] —

Autor: Franz Blauensteiner

Kulturarbeiter - Theatermacher - übüKULTUR Hackler Vater Übü, alias Franz Blauensteiner Artdirektor und Theatermacher "Scheitern gehört zum Programm." Vom analogen Bühnenstück zum Low Budget Wild Style Movie in Episoden – dem Theaterfilm. übüFamily: übüDigital-übüFilm und übüLive | Digitale Kunstvermittlung: Theater im Internet und LiveActs Im 25. Jahr werkraumtheater, Neustart mit dem Brand die übüFamily: Im Pandemiejahr 2020 musste das Grazer werkraumtheater studio in der Glacisstraße 61A leider schließen. Aber dieÜbüs orientierten sich nach 25 Jahren Kulturschaffen neu und wagten sich an das „Unmögliche“, denn: Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better (Samuel Beckett) Doch jedes Ende hat auch einen Anfang. Man erfindet sich neu bzw. startet mit einem neuen Format durch, der übüFamily. Das Grazer werkraumtheater wurde im Jahr 1995 von Franz Blauensteiner und Rezka Kanzian gegründet und belebte erfolgreich die Freie Szene abseits der Norm. Was ursprünglich als Alternative zu den konventionellen städtischen Theatern ins Leben gerufen wurde, gilt heute, 25 Jahre später, als eigene Marke und steht für ausdrucksstarke Theaterkunst, die eben nicht (nur) unterhalten will, sondern auch berühren soll. Jedes einzelne Stück kennzeichnet eine mehr oder weniger starke, aber konstante Durchzogenheit von Tradition und Geschichte, welche uns etwa berühren mag, teils vielleicht auch unangenehm ist oder gar (un)ästhetisch wirkt. Gerade diese Reichhaltigkeit und Tiefsinnigkeit sind es, welche die Stücke und Projekte des werkraumtheaters so einzigartig machen. – Weg von der Norm und den Vorgaben, die uns die Gesellschaft ein-indoktriniert, hin zur Freiheit und Individualität und schließlich hin zur „freien Kunst“.